Die Geburtsstunde des Fischer Random Chess

 von Eric van Reem

Im 20. Jahrhundert hat das Leistungs-Schach eine Entwicklung durchlaufen, bei der die Eröffnungstheorie eine immer größere Bedeutung bekommen hat. Die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Notgedrungen oder aus Begeisterung passen sich die meisten Spieler dem Trend an und verwenden - oder verschwenden - einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit und Energie darauf, Eröffnungstheorie zu lernen oder selbst zu verbessern. Man kann immer wieder feststellen, dass normale Vereinsspieler sich bestens mit komplizierten Sizilianischen Systemen auskennen, die Kreativität und Grundkenntnisse im Mittel- und Endspiel bleiben aber des Öfteren auf der Strecke. Allerdings gibt es auch einige Spieler, die sich mit Eigenbauten durchschlagen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der englische Großmeister Michael Basman, der mit augenscheinlich bizarren Eröffnungen (1.g4 oder 1. e4 g5) die Schachtheorie außer Kraft zu setzen sucht. Im deutschen Raum ist der Münsteraner Stefan Bücker ein Musterbeispiel für Kreativität in der Eröffnung. Spätestens aber ab einer Elo-Zahl von etwa  2500 kommt man nicht umhin, allgemein anerkannte Eröffnungen zu kennen.

 Selbst ein Gedächtnisakrobat wie Garri Kasparow hat sich schon darüber beklagt, nicht alle Varianten behalten zu können. Und wie wichtig ein ausgeklügeltes Eröffnungssystem ist, bewies Wladimir Kramnik, als er im Braingames-Match gegen Kasparow die Berliner Verteidigung wählte und seinen Gegner verzweifeln ließ. Kreativität im Spitzenschach ist allerdings immer noch möglich: Spieler wie Alexander Morosewitsch und Alexej Schirow beweisen immer wieder, dass noch nicht alle Möglichkeiten in der Eröffnung ausgeschöpft sind. Ein Spieler wie Karpow dagegen hat ein sehr kleines Eröffnungsbuch und verlässt sich dafür mehr auf seine Stärken im Mittel- und Endspiel.

 

Massenhaft Theorie

Bobby Fischer soll bei seinem Comeback 1992 gegen Spasski einen Schock bekommen haben, als er Berge neuer Theorie vorgesetzt bekam. Viele Großmeister hatten dem US-Amerikaner angeblich tonnenweise Analysen geschickt, die er aber nie benutzte. 1992 spielte der Amerikaner vorwiegend alte Eröffnungssysteme, was jedoch kaum einen der Experten verblüffte. Die Masse an Informationen hatte Fischer nachdenklich gestimmt - und dieses Erlebnis veranlasste ihn dazu, eine Schachvariante zu propagieren, in der die Theorie keine wesentliche Rolle spielt. Der Unterschied zum traditionellen königlichen Spiel besteht beim Fischer Random Chess in der Startaufstellung. Während alle Figuren wie gewohnt ziehen und die Bauern auf der zweiten Reihe bleiben, werden die Positionen der Offiziere ausgelost. Dabei gibt es einige Regeln, die zum Beispiel garantieren, dass jeder einen weiß- und einen schwarzfeldrigen Läufer bekommt. Um die Chancengleichheit beider Seiten zu wahren, erhält Schwarz die spiegelbildliche Grundstellung.

Eine wichtige Nuance, in der sich die von Ex-Weltmeister Fischer entwickelte Variante vom Shuffle Chess unterscheidet, ist das Rochade-Recht. Egal, wo König und Türme zu Beginn stehen, wenn sich eine Partei zur Rochade entschließt, finden die beiden Figuren ihr vertrautes Plätzchen: Bei der so genannten „a-Rochade“ der Turm auf d1 (d8) und der König auf c1 (c8), bei der „h-Rochade“ der Turm auf f1 (f8) und der König auf g1 (g8). Die Rochade mutet manchmal seltsam an, weil beispielsweise der Monarch nur von e1 nach g1 zieht, während der bereits in der Grundstellung dort platzierte Turm schon auf f1 steht! Ansonsten sind aber die üblichen Rochade-Regeln zu beachten: Wenn König oder Turm bereits gezogen haben, ist sie nicht mehr gestattet. Auch die Rochade des Königs über ein bedrohtes Feld bleibt verboten.

Was bezweckte Fischer mit seiner Erfindung? Bei der Auslosung der Grundstellung gibt es 960 verschiedene mögliche Anordnungen. Nur bei der Grundstellung des traditionellen Schachs nutzt einem die Eröffnungstheorie. Genau deren Bedeutung wollte der 58-Jährige minimieren, damit nicht die besser vorbereitete Variante gewinnt, sondern der stärkere Spieler. Vom ersten Zug an müssen beide Akteure eigene Strategien entwickeln, ohne Denkschablonen benutzen zu können.

 

Buenos Aires 1996: Die Geburtsstunde des Fischer Random Chess

Am 19. Juni 1996 wurde eine Presskonferenz in Buenos Aires angekündigt, in der Fischer seine neue Shuffle-Chess-Variante bekannt geben wollte. Viele Journalisten und Schachfans kamen nach Argentinien, um die Geburtsstunde des Fischer Random Chess mitzuerleben. Fischer erzählte, dass seine neue, verbesserte Version des klassischen Schachs dazu führt, dass Schach nicht ausanalysiert wird. Zudem bekräftigte er seine Ansicht, viele Spieler würden schon vor der Partie ihre Ergebnisse absprechen. Dies gelte sogar für einige WM-Partien, die die Russen Kasparow und Karpow vorher Zug um Zug festgelegt hätten. Im Fischer Random Chess passierte solcherlei seltener. Kreativität und Talent erwiesen sich als wichtiger, als sich mit Eröffnungszügen voll zu stopfen. Außerdem sei die Analyse beim klassischen Schach zur Arbeit ausgearbeitet - und er, Fischer, habe ja angefangen Schach zu spielen, um nie arbeiten zu müssen!

Der US-Amerikaner vertrat die Ansicht, Computer besäßen beim Fischer Random Chess einen großen Nachteil. Weil die Programme keinen Zugriff auf Datenbanken und Eröffnungsbücher haben, stelle sich bald heraus, dass Computer nicht richtig Schach spielen könnten. Matthias Wüllenweber, Chef-Programmierer der Firma Chessbase, vertritt hingegen eine gegensätzliche Meinung. Bereits vor dem Duell im Shuffle Chess zwischen „Fritz on Primergy“ und dem deutschen Spitzenspieler Artur Jussupow äußerte der Software-Experte im Vorjahr: „Beim Fischer Random Chess entstehen weniger herkömmliche Muster. Diese Mustererkennung ist aber der Trumpf des Menschen im Schach.“ Wüllenweber verweist hierbei auf eine Untersuchung seines Chessbase-Kompagnons Frederic Friedel. Er hatte Großmeister Andras Adorjan zehn Sekunden lang verschiedene Stellungen gezeigt. Die „normalen“ Positionen konnte sich der Ungar weit besser einprägen als Amateure. Der Mensch speichert dabei so genannte „Chunks“ ab. Er merkt sich hierbei nicht „Bauern auf f2, g2 und h2, dazu König auf g1 und Turm auf f1“, sondern einfach „kleine Rochade“, die er leicht memoriert. Fallen solche Einteilungen weg – in der Untersuchung bedeutete dies, dass die Stellungen völlig sinnlos aufgebaut wurden, unter anderem mit Bauern auf der ersten und achten Reihe -, schrumpfen die Unterschiede zwischen Profis und Amateuren gegen Null. „Der Unterschied zwischen Mensch und Maschine beträgt beim Fischer Random mehrere hundert Elo!“, glaubte Wüllenweber an einen gewaltigen Leistungsunterschied und wurde mit dem 2:0-Sieg gegen Jussupow auch in gewisser Weise bestätigt.

  

Fischer Random Chess in der Praxis

Während der Pressekonferenz in Buenos Aires wurde auch das erste Match im Fischer Random Chess zwischen dem philippinischen Großmeister Eugenio Torre und seinem argentinischen Kollegen Pablo Ricardi angekündigt. Beide Großmeister waren bei der Pressekonferenz anwesend und zeigten sich von der neuen Schachvariante begeistert. Ab dem 12. Juli 1996 sollten beide Großmeister einen Zweikampf in La Plata (Argentinien) austragen. Fischer und die Organisatoren zerstritten sich aber, weshalb das Match abgesagt wurde. Einige kreative Organisatoren in Dänemark, Schottland und den Niederlanden haben auf Amateurebene Turniere im Fischer Random Chess organisiert. Ein viel beachtetes Match im Shuffle Chess zwischen „Dreihirn“ Prof. Ingo Althöfer (Dreihirn = 2 Schachprogramme + Althöfer) und Artur Jussupow wurde 1997 gespielt. Fischer Random war es nicht ganz, weil die Computer damals die komplizierten Rochade-Regeln nicht beherrschten.

Die Welt musste bis 2001 warten, bis endlich ein Organisator den Mut besaß, ein Match zwischen zwei Topspielern im Fischer Random Chess auszurichten. Hans-Walter Schmitt, Turnierpräsident der Chess Classic Mainz (vormals Frankfurt Chess Classic), will nun - wie vor sieben Jahren das Schnellschach - die Entwicklung des Fischer Random Chess vorantreiben. Fast genau fünf Jahre nach der Geburtsstunde schlägt die Stunde der Wahrheit. Die Schachfans dürfen gespannt sein, ob die Variante in Zukunft eine wichtige Alternative zum klassischen Schach darstellen wird. Beim ersten hochkarätigen Match zweier Weltklasse-Akteure messen sich in der Mainzer Rheingoldhalle der Weltranglistenvierte Michael Adams und der drei Plätze dahinter liegende Peter Leko. Für die Zuschauer wird es vom 26. bis 29. Juni interessant sein, mit den beiden experimentierfreudigen GM schon ab dem ersten Zug mitzudenken. Leko und Adams bekommen erst kurz vor der Partie die Anfangsstellung auf dem Brett und werden dann die neue Vielfalt zeigen. Die Spieler müssen sich jedes Mal - wie ein Neugeborenes - ohne etabliertes Eröffnungswissen orientieren. Beginn der ersten Partie ist Dienstag bis Freitag jeweils 15 Uhr. Vor dem „Duell der Weltmeister“ zwischen Wladimir Kramnik und Viswanathan Anand (17.30 Uhr) tragen Leko und Adams auch noch eine zweite Partie aus.

Wird Fischer Random Chess das herkömmliche Spiel eines Tages ablösen? Artur Jussupow, die deutsche Nummer eins und Trainer Lekos, meint: „Noch ist es keine Konkurrenz, aber durch die Computer-Entwicklung und die ausanalysierten Eröffnungen wird es vielleicht zunehmend populärer. Der theoretische Ballast ist einfach geringer. Deshalb erfordert das Spiel mehr Kreativität.“ Noch sei es „zu früh zu sagen, wohin die Entwicklung geht, aber eine erste Alternative stellt  Fischer Random Chess womöglich dar“. Indes relativiert Jussupow gleich in seinem letzten Satz: „Schach ist so schön und so schwierig, dass man es noch lange spielen kann!“

 
     
 

Interview mit Adams

Interview mit Leko

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